Mir ging das Herz auf, als unsere Zwillinge die Welt der Bilderbücher entdeckten. Schnell wurde mir klar, wie wertvoll es ist, ihnen schon im Kleinkindalter den Zugang zu Büchern zu ermöglichen. Bücher mit Bildern können dazu beitragen, die Beobachtungsgabe, wie auch die Sprache der Kinder zu fördern; aber auch ihre Selbstwirksamkeit, sprich ihr Zutrauen zu stärken, Dinge eigenständig und in Gemeinschaft erkennen und kreativ weiter denken zu können. Und vor allem macht es sie glücklich.
Welche Bilderbücher für welches Alter
Im Internet finden sich zahlreiche Altersempfehlungen. Bis zu 1 Jahr wird zu Filz- und Stoffbüchern geraten; danach werden Kinderbücher mit abgerundeten Ecken und stabilen Pappseiten empfohlen und erst ab dem 2. Jahr solche mit dünnen Seiten. Da die Geduldsspanne der Kleinkinder noch kurz ist, bieten sich haptische Elemente an, die das Kind befühlen, aufklappen, drücken, wörtlich "begreifen" kann. Auch wir hatten ein paar dieser Bücher, bei denen etwa die Bauernhoftiere durchs Betasten Laute von sich gaben. Diese waren stets kleine Highlights. Doch immer nur für kurze Zeit. Zu unserer Überraschung griffen unsere Zwillinge nämlich weit vor dem zweiten Geburtstag immer häufiger zu "Büchern für Grosse", solchen mit szenischen Bildern, ausführlichen Geschichten, oder Wimmelbüchern, auf denen es viel zu entdecken gab. Die kursierende Auffassung, dass dichte Bücher die Kleinkinder überfordern würde, haben wir ignoriert. Stattdessen sind wir der Wahl unserer Kinder gefolgt. Und wie es rückwirkend scheint, zum Guten.
Ein Hoch auf Wimmelbücher
Tatsächlich war das erste Buch unserer Zwillinge kein klassisches Babybüchlein, sondern das Riesenbilderbuch des legendären Autors und Illustrators Ali Mitgutsch (1935 – 2022).
Wir hatten es geschenkt bekommen und fanden es als Objekt so toll, dass wir es seit Geburt im Wohnzimmer stehen hatten. Noch bevor die Kiddies sitzen konnten, nutzten sie das ausgebreitete Wimmelbuch als 80 auf 60 cm grosse Krabbelfläche. Später tauchten sie davorsitzend in die unterhaltsamen Stadt-, Bauernhof- und Hafenszenerien ein. Zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr wurde wild auf alles gezeigt, worauf nach und nach erste Bezeichnungen folgten. Unabhängig davon, dass beide Kinder dieselben Geschichten von uns zu hören bekamen, hatten sie verschiedene Lieblingsseiten, -figuren und -objekte. Sah das Mädchen überall "Würschtli", "Chäs" und "Brot", so erlag der Junge dem Bann der Fahrzeuge. Kein Zufall, dass dies auch ihren Vorlieben im Alltag entsprach.
Bilderbücher schlagen Brücken zwischen Realität und Vorstellungskraft.
Aus losen Einzelbegriffen wurden zunehmend Zweiwortsätze und kleine Geschichten. Kurzum: sie entdeckten das Buch mit immer neuen Augen und vor allem konnten beide in den Bildern individuell das finden, was zu ihrer aktuellen Wahrnehmung der Welt passte. Das Buch schien mit ihren Entwicklungsschritten und Interessensgebieten mitzuwachsen und kurz nach ihrem zweiten Geburtstag – in dem Alter, ab welchem es eigentlich empfohlen wird – war es schon komplett zerfleddert.
Jedes Kind ist anders
Mein persönliches Fazit: Anstatt auf Altersangaben zu achten, beobachte ich lieber die Vorlieben meiner Kinder. Ich frage mich etwa, ob sie überhaupt schon bereit für Bücher sind? Wenn ja: welche Art von Bilderbüchern bevorzugen sie? Kleine oder grosse Formate, knallige Farben oder feine Zeichnungen, Geschichten mit Tieren oder Figuren? Und nicht zuletzt: Welche Bücher machen mir selbst zum Vorlesen Freude? Denn wenn mich ein Buch inspiriert, lese ich es auch anregender vor.
Und falls "Bücher für ältere Kinder" die Wünsche von mir und den Kindern besser erfüllen, so gehe ich eben ins Brockenhaus und hole mir ein paar Exemplare, die "leiden" dürfen.
Lieblingsbücher aus der eigenen Kindheit sollten definitiv nicht geopfert werden. Andernfalls habe ich gemerkt, dass geflickte Buchseiten die Kinder später auch etwas stolz machen können, wie leidenschaftlich sie dieses Buch doch gelesen haben.
Was wird durch Bilderbücher gefördert?
Bilderbücher können (Klein-) Kindern dabei helfen, vernetzt zu denken und ihre Sprache zu entwickeln, indem sie in den imaginierten Bildwelten Dinge aus ihrem Alltag wiederfinden. Durch wiederholtes Erzählt-Bekommen, sowie eigenes Benennen, können sich Dinge und Zusammenhänge verankern. Ein gutes Bilderbuch ist aber noch viel mehr als ein pädagogisch wertvolles Fördermittel. Es schenkt dem Kind einen Moment der stillen Konzentration und kann in emotional schwierigen Phasen aufmunternd und beruhigend wirken. Während das Kleinkind täglich einem Sturm von neuen Bildern, Klängen und Worten ausgesetzt ist – zumal in hoher Dichte und Geschwindigkeit – bietet ihm das Bilderbuch die Möglichkeit, Bekanntes sowie Neues in angehaltenen Bildern und dem eigenen Tempo zu verarbeiten. Nicht zuletzt kann – was in der realen Welt nicht immer möglich ist - Langweiliges, Kompliziertes oder Unangenehmes einfach übersprungen werden. Kurzum:
Bilderbücher lassen Kinder erkennen, lernen, aber auch erfinden. Sie fördern Geduld, Konzentration, Humor, Kombinationsfähigkeit, Empathie und Fantasie.
Das Vorlesen und gemeinsame Anschauen vermittelt dem Kind zudem Geborgenheit. Es erfährt Aufmerksamkeit und kriegt Übung darin, sich im Miteinander Dinge genau anzuschauen, Gesehenes auszudrücken und vielleicht sogar erste kleine Debatten über die Vielfalt menschlicher Wahrnehmung zu führen. (Orange? Nein, Mandarine. Blau? Nein, Violett. Diskussionen wie diese sind bei unseren Zwillingen an der Tagesordnung :))
Was ist ein gutes Bilderbuch?
Was ein gutes Buch ist, liegt im Auge der Betrachtenden. Und da können Geschmack von Erwachsenen und Kindern stark auseinandergehen. Es liegt sicher im Bestreben der Eltern, Bücher auszuwählen, die ihren persönlichen Werten und Moralvorstellungen entsprechen und keine bedenklichen Inhalte vermitteln. Auch macht es Sinn, auf eine liebevolle, heitere Bildsprache zu achten – schliesslich bilden sich gerade zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr Gefühle wie Empathie, aber auch Angst besonders aus. Doch auch hier möchte ich dazu aufrufen, dem Kind viel Entscheidungsfreiheit einzuräumen.
Ich merkte, dass besonders hübsch oder realistisch illustrierte Bücher meine Kinder oft weniger ansprachen als mich selbst.
Die meisten Kinder lieben originelle Wesen, Fahrzeuge und Geschichten, sowie Welten, in die sie sich selbst hineindenken können. Kurzum: Bilderbücher, welche die Fantasie der Kinder nicht beengen, sondern weiten.
Lieblingsort Bibliothek: Bücher ausleihen statt kaufen
Eine tolle Möglichkeit ist es, mit euren Kindern in die Bibliothek zu gehen. Lasst sie zunächst selbst auswählen und filtert maximal am Ende den Stapel. Das Tolle ist, dass die Kinder auf diese Weise Themen kennenlernen, die ihr ihnen selbst nicht vermittelt hättet.
Ein gutes Kinderbuch kann eines sein, das eurem Kind Zugang zu einem euch fremden Thema gibt.
Wie lese ich Bilderbücher vor? Ein paar Ideen.
Nehmt euch bewusst Zeit. Macht es euch bequem - auf dem Sofa oder im Bett. Vielleicht baut ihr eine Höhle aus Decken. Oder ihr setzt euch abenteuerlich bei Gewitter auf den gedeckten Balkon, ins Zelt, auf eine Wiese oder in den Wald. Wählt etwa Bücher aus, in denen sich die Motive aus eurer Umgebung wiederfinden.
Traut euch, bei Bilderbüchern für Kleinkinder den genauen Wortlaut des Textes zu verlassen. Sprecht Mundart und improvisiert auch mal. Schmückt die Erzählung aus oder reagiert einfach intuitiv auf die Bilder.
Bindet eure Kinder ein. Stellt Fragen. Lasst sie den Figuren eigene Namen geben, lasst sie die Geschichten auch mal selbst erzählen. Nutzt das Buch, um Erlerntes zu vertiefen: bestimmt zum Beispiel die Farbe von Dingen, zählt Figuren, singt Lieder, die zu den Bildern passen. Lasst die Kinder Tempo und Leserichtung bestimmen. Wie liest sich ein Buch etwa rückwärts? Ihr mögt staunen, wie schnell ein Buch durchgeblättert werden kann. Doch glaubt mir, mit jedem Mal werden Geduld und Aufmerksamkeit eurer Kinder zunehmen.
Schöne Bilderbücher: meine Buchtipps
Nun seid ihr wohl auf diesem Blog gelandet, weil ihr nach schönen Büchern für Kleinkindern gesucht habt. Hier kommt meine persönliche Auswahl, basierend auf meinen geschilderten Erfahrungen, Werten und meiner Freude an aussergwöhnlich tollen Mal- und Zeichenstilen. Meine Tipps sind keine klassischen Kleinkindbuchtipps, sondern solche, welche eure Kinder eine ganze Weile begleiten mögen. Spätestens mit 2 Jahren werden sie den Büchern gewachsen sein. Erst werden es wohl die Bilder sein, welche ihre Fantasie anregen, nach und nach werden sie die Geschichten dahinter ergründen und verstehen. Ich danke an dieser Stelle meiner tollen Freundin, Illustratorin und ebenfalls Zwilligsmami Mara Berger für das Beisteuern ihrer Buchtipps:
Das Lehrreiche
Dies ist definitiv ein Buch, das mit euren Kindern mitwächst. Mit 1.5 Jahren liebten meine Kinder vor allem eine supertolle Doppelseite mit einer schillernd schrägen Darstellung verschiedener Menschen. Ein Jahr später machten sie den Saturn und Schwertwal ausfindig und erklärten mir in ihren wenigen Worten die Welt. Auf spielerische Weise erklärt Oliver Jeffers den Kindern die Vielfalt unserer Erde.
Das Witzige
Bunt und auch ein bisschen frech erzählt die Zürcher Illustratorin von Olga, einem ”wandelnden Kioskhäuschen”, die durch einen skurrilen Zufall den Stadtalltag verlässt und schliesslich am Strand den Sonnenuntergang geniesst.
Die Fan-Brüder haben ein gleichermassen skurriles wie vielschichtiges Bilderbuch über Gemeinschaft, über Kunst und über Teilhabe erschaffen. Ach ja, und über Wunder. Nämlich das Wunder, das vom Himmel fiel. Ein feines Buch für Gross uns Klein. Die Zeichnungen spielen träumerisch zwischen Schwarzweiss-Eleganz und bunter Schleckzeugästhetik.
Das Musikalische
Welches Kind liebt sie nicht - Musik und süsse Tiere? Dieses Buch ist nicht nur ein wahrer Klassiker, es verbindet auch in einfacher Weise die beiden frühkindlichen Topthemen. Äffchen Dodo, der im Urwald eine Geige findet und sich regelrecht ins Spiel verliebt, zählt zu den Helden meiner Kinder.
Das Bunte
Wenn eure Kinder Malen und Farben lieben, so ist dies genau das richtige Buch für euch. Erfahrt auf witzige Weise, wie sich jede Farbe in dieser grossen bunten Welt fühlt.
Das Originelle
Wenn euer Kind das nächste Mal sagt, es hätte ein Bananenauto oder einen Ameisenbus gesehen, sagt ja nicht, dass es das nicht gibt. Richard Scarry teilt mit den Kindern nämlich nicht nur die Vorliebe für alles was fährt, er setzt auch deren wildesten Traummobile ins Bild.
Das Liebevolle
Eine liebevoll illustrierte Geschichte, welche die Beziehungen zwischen Tier und Mensch, ebenso wie zwischen Eltern und Kindern den Lesenden einfühlsam nahe bringt.
Das Kauderwelsche
Was ist den das? Ja, das ist mein absoluter Geheimtipp an alle, die gerne grossartige Illustration haben, eine Faible für das Kauderwelsch der eigenen Kinder, wie auch für die kleinen Wunder der Natur haben. Entdeckt mit euren Kindern die zauberhafte Welt der Pflanzen und Insekten und lasst euch ein auf eine humorvoll frische Fantasiesprache.
Julia Schallberger, September 2022
Comments