Erschienen im Wochenblatt am 10. Oktober 2024
Der Zwetschgenbaum vor unserem Fenster
Vor unserem Küchenfenster steht ein Zwetschgenbaum. Er trägt noch immer Früchte. Ein Spätzünder. Die anderen Zwetschgenbäume haben wir schon vor Wochen leergepflückt. Dieser brauchte jedoch etwas länger. Viele der heranreifenden Zwetschgen liess der filigrane Baum schon viel zu früh fallen; und jetzt, wo es die Eisernen bis zur Reife geschafft hätten, fielen sie dem Dauerregen zum Opfer und sackten faulig oder von den Vögeln zerpickt zu Boden. Dort liegen sie nun – umgeben vom Laub, von dem sich der Baum in den letzten Tagen bereits entledigt hatte. Mit seinen vergessenen blauen Kugeln im Geäst erscheint er mir wie ein Sinnbild des Herbstes und des versiegten Sommers.
MENSCH UND BAUM: Unsere Beziehung zu den Bäumen
Warum mir der Baum gerade jetzt so auffällt, weiss ich nicht. Vielleicht, weil ich in den letzten Monaten viel über Bäume gelesen und geschrieben hatte. In Referaten und Führungen sprach ich über unsere Beziehung zu den Gehölzen. Insbesondere suchte ich in der Kunst- und Kulturgeschichte nach Bildern und Erzählungen, die zeigten, wie sich unser Blick auf die Bäume über die Jahrhunderte entwickelt und verändert hatte: Wurden Bäume bis weit ins Mittelalter hinein von verschiedenen Kulturen als entrückte Naturwesen, als Heiligtümer und magische Kraftorte betrachtet, so speist sich die Wertschätzung vieler Menschen heute nicht zuletzt aus dem Bewusstsein, dass Bäume für unser Überleben schlicht unabdingbar sind.
Doch nebst den Tatsachen, dass uns Bäume als ökologisches Wunderwerk mit sauberer Luft versorgen, Schatten spenden, mit ihren Wurzeln den Boden sichern, Tieren und Mikroorganismen wertvollen Lebensraum bieten, uns als Nahrungsquelle dienen, uns faszinieren und inspirieren – so mögen manche auch einfach eine ganz handfeste, ja fast «freundschaftliche Beziehung» zu den Bäumen pflegen. Warum? Vielleicht weil man sich ihnen nahe, sogar irgendwie verwandt fühlt? So schrieb bereits der Alchemist Paracelsus im 15. Jahrhundert: «Dieses Gewächs gleicht dem Menschen. Es hat seine Haut, das ist die Rinde; sein Haupt und Haar sind die Wurzeln, es hat seine Figur und seine Zeichen, seine Sinne und die Empfindsamkeit im Stamme. Sein Tod und sein Sterben sind die Zeiten des Jahres.»
Loslassen: Die Natur als Lehrerin
Und so blicke ich wieder hinaus zu meinem Zwetschgenbaum. Und tatsächlich empfinde ich für einen Moment so etwas wie Mitleid, Mitgefühl. Während der Wind durch seine nassen, entlaubten Äste zieht, wärme ich mich in der Wohnung an einem warmen Tee und heize den Holzofen ein. Doch was, wenn ich dem Baum zu Unrecht Leid attestiere? Was, wenn er mir eben doch um Meilen überlegen ist? Wenn er den Sturm einfach ruhig und routiniert vorbeiziehen lässt und lediglich loslässt, was schwer oder welk geworden ist und seine ganze Kraft auf das erneute Aufblühen im Frühling verwendet? Was, wenn er mir durchs Küchenfenster nur zuflüstern will, dass ich es ihm doch gleichtun soll?
Und so versorge ich die letzten Zwetschgen im Gefrierfach und die vielen Baumbücher im Regal. Ich freue mich über die Gartenernte und alles, was ich in diesem Jahr geschafft habe. Und dann überlege ich mir, was vielleicht zu viel oder zu wenig ausgereift war und… lasse das Laub fallen.
Julia Schallberger, Oktober 2024
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